Strahlendes Wetter, glühende Landschaften

Zuerst die gute Nachricht: Das von Perm aus nächste Atomkraftwerk ist in der Nähe von Jekaterinburg, ca. 500 km von mir entfernt. Die Entfernung ist schonmal ein bischen beruhigend…

Jetzt die schlechte: Es ist das Atomkraftwerk Beloyarsk, ein schneller Brutreaktor. Mit Natriumkühlung. Ohne Containment. Mit einer langen Vorgeschichte von Störfällen.

Schnelle Brutreaktoren haben den Vorteil, dass sie, wenn sie richtig funktionieren, mehr Nuklear-Brennstoff erzeugen, als sie verbrauchen. Blöderweise ist dieser Reaktortyp noch technisch anspruchsvoller und störanfälliger als die normalen Siede- oder Druckwasserreaktoren. Weshalb das Kraftwerk in Beloyarsk auch öfter mal stillstand.

Zu den besonderen Eigenheiten von Beloyarsk 3 (dem einzigen Block der zur Zeit läuft) gehört, dass er einen deutlich höheren Anteil von angereichertem Uran hat (17-26% U-235) als normale Reaktoren hat. Und dann wäre da noch das Kühlsystem: in Brutreaktoren werden in der Regel flüssige Metalle (z.B. Natrium oder Blei) in den inneren Kühlkreisläufen verwendet. Bekanntermaßen gehört Natrium ja zu den reaktionsfreudigeren unter den Elementen, ich könnte mir da so ein, zwei Komplikationen vorstellen, sollte es zu einem Kühlmittelleck kommen… brennendes Kühlmittel, sowas kann einem richtig den Tag versauen…

Netterweise haben sich die Genossen Kraftwerkskonstrukteure beim Bau des Blocks das Containment gespart, wenn also mal was richtig schief geht, hat also gleich die ganze Gegend was davon.

Und schiefgehen tut in Beloyarsk schon hin und wieder mal was. So wie 1978 bei der partiellen Kernschmelze in Block 2 (heute abgeschaltet) oder ein Jahr später als das Dach über diesem Reaktor einstürzte und ein Feuer auslöste. Dabei wäre es beinahe zum  GAU gekommen, man bereitete schon die Evakuierung der Gegend vor. Aber immerhin haben die Genossen bei der ganzen Sache ein paar Erfahrungen gemacht, die sie ein paar Jahre später in einem kleinen Ort im Norden der Ukraine gebrauchen konnten. Learning by doing…

Aber weil das alles so super funktioniert, wird mittlerweile Block 4 gebaut. (Mit Unterbrechungen schon seit Mitte der achtziger Jahre, genau wie unser Haus…)

So, wer sich jetzt immer noch nicht genug gruselt, dem sei dieser Podcast empfohlen. Oder diese Doku.

Aber in Russland werden zum Glück auch alternative Energien erforscht. Es gibt da ein sehr vielversprechendes Projekt zur Ausnutzung der Rotationsenergie sich im Grabe umdrehender Altkommunisten.

Und immer dran denken, das Wort heißt „nukular„.

Bildquelle: Wikipedia

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Ein echter Experte

Am Mittwoch war ich zu einer Diskussion im deutschen Lesesaal der Gorki-Bibliothek eingeladen. Thema waren die Revolutionen in Nordafrika und dem Nahen Osten und ich wurde als eine Art „Experte“ vorgestellt. (Hey, immerhin hab ich Politik studiert, und auch noch was mit Medien…)

Die Diskussion verlief relativ unspektakulär, wohl weil die russischen Teilnehmer nicht so gut informiert waren oder Schwierigkeiten hatten, sich auf deutsch zum Thema zu äußern. Könnte ich ja auf russisch auch nicht.

Zum Thema Libyen erklärte ich Experte dann ausführlich, warum ich eher nicht mit einem effektiven Eingreifen der UN rechne. Kurz, der Westen will nicht in noch einen Krieg in Nahost verwickelt werden (zwei reichen ja), und China will als Schutzpatron der Undemokraten keinen Präzedenzfall schaffen, der dann auf seine Verbündeten (Nordkorea, Iran, Burma) angewendet werden könnte.

Zwei Tage später verabschiedet der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1973, die mit einem Flugverbot und „allen nötigen Mitteln“ zum Schutz von Zivilisten genau das Gegenteil von dem enthält, was ich prophezeit habe.

Wenn ich so weiter mache, kann ich bald im Fernsehen auftreten.

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Nur für Langzeitparker

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Junge Kommunisten

Während ich in St. Petersburg war, fand in Perm eine kleine Demo einer kommunistischen Partei statt. Die Demonstranten erfuhren, dass das Büro von Memorial in der Nähe ist und bezogen vor unserer Tür Stellung. Besonders gut informiert waren die jungen Demonstranten zwar nicht, denn auf Nachfrage konnten sie nicht wirklich erklären wer Memorial ist oder macht, sie waren aber trotzdem davon überzeugt, wir wären „Feinde“.

Als Nachschlag wurde dann auf der Partei-Seite ein Artikel veröffentlicht, die uns als „Feinde“ weiter diffamierte. Kurz gesagt, die Mitglieder von Memorial seien  „Dissidenten“, die Repressierten allesamt ‚Wlassow-Leute‚, sprich Verräter, die ihre Zeit im Lager verdient hätten.

Jetzt war Memorial am Zug. Um die Feindseligkeit ein bischen zu reduzieren und ins Gespräch zu kommen, wurden die Kommunisten zu unserem Freiwilligentreffen am Donnerstag eingeladen. Tatsächlich war dann das Büro am abend erstaunlich voll, sieben oder acht der junge Demonstranten und ein alter Mann (ihr Vorsitzender?) waren gekommen. Damit waren von ihnen ungefähr genauso viele von ihnen da wie von uns.

Für diesen Abend stand ein heikles Thema auf dem Programm: Aus aktuellem Anlass hielt unser Ehrenvorsitzender Alexandr Kalich einen Vortrag über Terrorismus und seine Ursachen, der dann zu lebhaften Diskussionen führte. Ich will nicht den ganzen Vortrag wiedergeben, aber in Grundzügen ging es um das Verhältnis von Terrorismus, Massenmedien und Gesellschaft, das regelmäßige Versagen der russischen Sicherheitskräfte, und wie die Regierung Putin den tschetschenischen Terrorismus zur Festigung der eigenen Macht genutzt hat. Hauptsächlich wurde über Terrorismus in Russland, also die Anschläge tschetschenischer Separatisten, diskutiert.

In der Diskussion kamen von Seiten unserer Besucher einige „interessante“ Sichtweisen hervor, dazu auch manches sehr Beunruhingendes.

So kam der Vorwurf auf, die Terroristen würden von den russischen Geheimdiensten finanziert oder wenigstens gedeckt. Solche Verschwörungstheorien sind nicht neu, und angesichts der Art, wie Putin Anschläge genutzt hat, um mit Antiterrorgesetzen seine Macht zu festigen, auch nicht sonderlich überraschend.

Andere Theorien waren etwas abstrakter und verquerer: Es gibt keine Terrororganisationen wie al-Qaida, alle Anschläge werden individuell organisert von jemanden, dem sie nützen. Und wer könnte das sein? Multinationale Unternehmen, wer sonst! (Hey, wir reden hier mit Kommunisten, was habt ihr erwartet.) Schuld am Terrorismus sind also Globalisierung und Kapitalimus. Und natürlich die üblichen Verdächtigen: Die Araber, Georgien, Ukraine und die USA…

Kürzer auf den Punkt brachte es ein anderer (und offenbarte, wes‘ Geistes Kind er ist): „Die ethnischen Minderheiten hassen die Russen eben, und Memorial steht immer auf der Seite dieser Leute!“ Ja, man kann das Problem natürlich auch lösen, in dem man die ganzen lästigen Minderheiten nach Kasachstan deportiert.

Jemand hat dann noch nach einer deutschen Perspektive auf die ganze Problematik gefragt, und so viel mir das Schlusswort zu. Meine Antwort war in etwa folgende: „Die Situation in Russland ist mit der in Deutschland nicht zu vergleichen, schon weil Deutschland ein ethnisch viel homogenerer Staat ist, (fast) ohne nationale Minderheiten. Um den tschetschenischen Terrorismus zu beenden, ist eine politische Lösung des Tschtschenien-Konflikts nötig. Das bedeutet eine Lösung in der die Rechte der Minderheiten gewahrt. Beispiele für so eine Lösung sind der Friedensprozess in Nordirland oder die Republik Tatarstan (es geht also auch unter russischen Bedingungen). Mit staatlichem Terror (wie zur Zeit in Tschetschenien) kann Terrorismus zwar zeitweilig unterdrückt, aber nicht dauerhaft beseitigt werden. Das zeigen zum Beispiel die letzten 150 Jahre tchetschenischer Geschichte: Sobald die Zentralmacht Schwäche zeigte, begann der Aufstand von neuem, etwa zur Revolution 1917, während des 2. Weltkrieges und nach dem Zusammenbruch der UdSSR.

(Nicht gesagt habe ich, das einer politischen Lösung extrem viele Hindernisse im Weg liegen, angefangen bei der undemokratischen Regierung in Moskau, und der Radikalisierung durch die letzten zwanzig Jahre Krieg. Ich musste ja auch Rücksicht auf Olga nehmen, die alles übersetzte.)

Dann kam noch eine letzte Frage an mich: „Kann eine Demokratie stark sein?“ Meine Antwort: „Gegenüber Terrorismus kann eine Demokratie nicht so stark sein wie ein totalitäres Regime, letzteres bedeutet aber für die Bürger keinen Gewinn an Sicherheit, sondern nur eine andere Form der Bedrohung.“ Man tauscht die Bomben in der Metro gegen nächtliche Besuche der Geheimpolizei.

Einer unserer kommunistischen Besucher hatte eine andere Antwort: „Natürlich kann eine Demokratie stark sein, wenn nur alle Menschen das gleiche denken und das gleiche Ziel haben.“ Wozu braucht man dann noch Demokratie?

Am Ende des Abends haben wir uns dann noch kurz mit ein unserer Besucher unterhalten. Einer der Jungkommunisten entpuppte sich als Porschefan, ein Globalisierungsgegner trug eine Mütze mit dem Aufdruck ‚NY‘, die vermutlich in China oder Vietnam genäht wurde.  Die Jungs meinten auch in SPD-Mitglied Jan einen Glaubensgenossen gefunden zu haben,  das Kommunisten und Sozialdemokraten unter Stalin auf verschiedenen Seiten des Stacheldrahts standen, hatten sie wohl vergessen. Warum der (Sowjet-)Kommunismus zuerst gescheitert ist, obwohl doch der Kapitalismus die Sackgasse ist, konnte mir auch keiner von beiden erklären.

Trotz der aller inhaltlichen Differenzen und dem unguten Geist, der immer wieder aufblitzte, hoffe ich, das dieses Treffen zumindest dazu beiträgt, den Umgang zwischen den Organisationen in Zukunft etwas ziviler zu gestalten. Immerhin kann man mal miteinander reden, ohne sich gleich zu beleidigen.

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Umzug, Teil II

Ich bin mal wieder umgezogen. Jetzt wohne ich zusammen mit meiner Mitfreiwilligen Caro. Die neue Wohnung ist nicht weit vom Memorial-Büro, von Jan und von der Innenstadt. Außerdem ist sie viel schöner als die letzte.

Alte Wohnung:

Neue Wohnung:

Ich wohne auch nicht mehr im Ghetto, also muss ich auch nicht mehr Sido zitieren 😉

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Leise rieselt…

Warum ist eigentlich in Deutschland schon wieder das große Schneechaos ausgebrochen? Gabs das nicht erst letzten Winter? Nix gelernt? Und wieso überhaupt „Schneechaos“ wenn mir die Schneehaufen nicht mal bis zur Schulter reichen? Fragen über Fragen, die ich in den nächsten Tagen mal bei Tee, Plätzchen und Wodka überdenken werde…

Jedenfalls bin ich pünktlich zum vierten Advent wieder in der Heimat eingetrudelt. Trotz des gegenwärtigen „Schneechaos“ in Deutschland lief für mich alles glatt. Aeroflot gönnte mir vorher noch einen Überflug über Potsdam; sieht schön aus so ganz in weiß. Erkannt habe ich meine Heimatstadt an der Kolonie Alexandrowka, die ist von oben sehr markant.

Andere hatten weniger Glück, deshalb wünsche ich allen die noch irgendwo zwischen Perm, San Francisco, Strasbourg und Warschau in Zügen, Flugzeugen, Autos oder Flughäfen (haaallllloooo Frrraaaankfuuuuurt!!!) festhängen, das sie baldigst ihr Ziel erreichen mögen.

Hier gehts nach längerer Pause auch wieder regelmäßiger weiter. Stay tuned.

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Du in deinem Einfamilienhaus lachst mich aus…

Steig ein! Ich will dir was zeigen… der Platz an dem sich Freiwillige rumtreiben…

Meine Stadt…

… mein Viertel…

… meine Gegend…

… meine Straße…

… mein Zuhause, mein Block!

Yup, ich bin endlich umgezogen. Wohne jetzt ganz oben, ganz links.

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Ein Schritt vor, zwei zurück

Das es mit der Pressefreiheit in Russland nicht weit her ist und das die Opposition oft mit ruppigen Methoden bekämpft wird, ist leider nichts neues. Das diese Sitiuation viele engagierte Menschen verzweifeln lässt, auch nicht.

Umso mehr hatte ich mich gefreut, als vor ein paar Tagen Präsident Medwedew einen Schritt in die richtige Richtung tat und sich weigerte ein Gesetz zu unterzeichnen, dass die Versammlungsfreiheit noch weiter eingeschränkt hätte. Laut dem geplanten Gesetz sollte es Personen, die schon mal wegen einer illegalen Demonstration verurteilt wurde, nicht erlaubt sein, eine Demonstration anzumelden. Die Idee hinter dem Gesetz war wohl, das viele Oppositionelle bereits vorbestraft sind und so kaltgestellt werden sollten. Daraus  wird aber erstmal nichts. Das stimmt doch hoffnungsvoll, oder? Bewegt sich Russland also sachte Richtung mehr Offenheit und Demokratie?

Am Arsch, nix mit Demokratie und Freiheit! Nur wenig später überfiel ein Schlägertrupp den Journalisten Oleg Kaschin und prügelte ihn ins Koma. Gebrochene Beine, Kieferbruch und Schädeltrauma sind wahrscheinlich die Quittung für sein Engagement zur Rettung der Chimki-Wälder. Dieses Waldgebiet bei Moskau soll einer Autobahn weichen, wogegen sich eine Bürgerinitiative wehrt.

Kurz darauf wurde ein weiterer Journalist brutal überfallen. Anatoli Adamtschuk befindet sich nach dem Überfall nun ebenfalls im Krankenhaus. Auch er hatte sich für die Chimki-Wälder engagiert. Das die Überfälle auf die beiden Regierungskritiker so kurz nach Medwedews Unterschriftsverweigerung kommen, mag Zufall sein, allein das Timing passt gut zu einer kleinen Verschwörungstheorie. Möchte da jemand der Opposition mitteilen, dass sie sich zu früh gereut hat?

Die Überfälle vom Wochenende sind nicht die ersten Versuche, Umweltschützer und Journalisten, die gegen die Autobahn sind, einzuschüchtern. Schlägertrupps verprügeln Journalisten, Neonazi-Banden überfallen das Zeltlager der Umweltschützer und die Miliz nimmt die Umweltschützer fest und läßt die Schläger laufen. Angesichts der Proteste hat Präsident Medwedew zwar zwischendurch einen vorläufigen Baustopp verkündet, aber die Überfälle vom Wochenende lassen nichts gutes ahnen. Wird so die Wiederaufnahme der Bauarbeiten vorbereitet?

Übrigens: Der Vorsitzende von Memorial Perm hatte nach einer Demo für die Versammlungsfreiheit am 31. Oktober einen „Schatten“, der ihm bis nach Hause folgte. Aber bislang wird Memorial von den örtlichen Behörden nicht aktiv bekämpft, die Kampagnen zur Förderung des Zivildienstes und für die Rechte der Wehrpflichtigen sowie der Protest gegen eine Änderung der Wahlgesetze im letzten Jahr haben sie aber sicherlich nicht beliebter gemacht.

Bleibt also zu hoffen das Oleg Kaschin und Anatoli Adamtschuk keine bleibenden Schäden davontragen, das sich die NGOs, Initiativen und Journalisten nicht einschüchtern lassen und das Russland bald mal ein paar Schritte in die richtige Richtung gelingen.

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Tochter eines Vaterlandsverräters

Sie hatten immer gehofft, dass der Vater eines Tages zurück kommt. Oder das er wenigstens irgendwo überlebt hätte, vielleicht mit einer neuen Familie. Doch Angelina Wladimirowna Buschuewas Vater kehrte nie zurück, er verschwand während des großen Terrors der Jahre  1937/38 in den Mühlen des NKWD-Apparats.

Angelina Wladimirowna war zwei Jahre alt, als ihr Vater, Ingenieur in einer Werft in Perm, verhaftet wurde. Er kam gerade vom Mittagessen, als Milizionäre erschienen und ihn, gemeinsam mit einigen Kollegen, mitnahmen. Ihm wurden „Terrorismus“ und „Vaterlandsverrat und antisowjetische Propaganda“ vorgeworfen. Er sollte für den Untergang von Schiffen verantwortlich sein.

Angelinas Mutter, eine Buchhalterin, fand zu Hause eine große Unordnung vor, die NKWD-Leute hatten nach Beweisen für die „Antisowjetische Tätigkeit“ des Vaters gesucht. Die Mutter suchte daraufhin die Gefängnisse der Stadt nach ihrem Mann ab und wurde dabei von einer Behörde zur nächsten geschickt. Auch ein Ermittler, mit dem sie bekannt war, wollte ihr nicht helfen. Nur durch einen Zufall gelang es ihr schließlich, ihren Mann noch einmal zu sehen. Er stand am Fenster seiner Zelle, so das ein kurzes Gespräch möglich wurde. Später schickte er noch einen Zettel, in dem er seine Frau aufforderte, zu seinen Eltern nach Otschor zu gehen, wenn er nicht zurückkommen sollte.

Urteil über die ganze Familie

Anfangs hatte die Familie noch gehofft, der Vater würde nach kurzer Zeit wieder entlassen. So war es schon 1933 passiert, als er für ein Jahr inhaftiert wurde, dann aber wegen seines schlechten Gesundheitszustandes – er litt an Rheuma – entlassen wurde. Doch dieses mal, 1937, sollte der Vater nicht zurückkehren.

Obwohl er nicht als Täter, sondern nur als Mitwisser einer Terrorgruppe angeklagt wurde, verurteilte das Gericht ihn nach Artikel 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches, dem sogenannten „politischen“ Artikel, zum Tode durch Erschießen. Außerdem sollte sein gesamter Besitz beschlagnahmt werden. Von diesem Urteil und dem weiteren Schicksal des Vaters erfuhr die Familie nichts.

Auch die Familie muss für den angeblichen „Verrat“ des Vaters büßen. Angelinas Mutter wird auf einer Gewerkschaftsversammlung verkündet, dass sie als Ehefrau eines Vaterlandsverräters nicht mehr in der vom Betrieb gestellten Wohnung leben darf. Ihr gesamter Besitz geht verloren, als der Schuppen abbrennt, in dem sie nach dem Auszug alles untergestellt hat. Im Feuer werden auch alle Fotos des Vaters zerstört.

Dann wird die Mutter zu einem Termin zu einer Behörde bestellt und dort ebenfalls verhaftet. Zusammen mit ihrem gerade geborenen Sohn wird sie in das „Lager für die Frauen von Vaterlandsverrätern“ (ALGIR) in die Steppe Kasachstans deportiert. Die zweijährige Angelina und ihre ein Jahr jüngere Schwester bleiben in einem Waisenhaus in Perm zurück.

Zwischen all dem Unglück trifft die Familie jedoch auch hin und wieder auf Gesten der Mitmenschlichkeit. So erhält die Mutter auf der langen Reise nach Kasachstan von hilfsbereiten Menschen Essen und Kleidung für ihr Kind. In Perm machen sich die Verwandten der Familie auf die Suche nach den Schwestern. Nachdem ihre Großmutter zwei Jahre vergeblich die Waisenhäuser der Region abgesucht hat, werden die beiden Mädchen schließlich bei einem Ausflug am Ufer der Kama erkannt. Es ist ihr Cousin und früherer Spielkamerad, der sie unter den Waisenkindern erkennt.

Zwar geht es den Kindern bei ihren Verwandten besser als im Waisenhaus, aber nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion verschlechtert sich die Lage in Perm zusehends. Zwar liegt Perm im Hinterland weit von der Front entfernt, aber Nahrungsmittel und Gebrauchsgüter wie Seife sind kaum noch zu bekommen, vor den Geschäften sind lange Schlangen, in der Stadt herrscht Hunger. Die Situation wird so katastrophal, dass die Verwandten entscheiden, die Kinder zu ihrer Mutter ins Lager nach Kasachstan zu schicken, denn dort herrschen bessere Bedingungen als in Perm. Im Lager war, im Gegensatz zur Stadt, zumindest eine minimale Nahrungsversorgung gesichert. Zuerst werden die Kinder darum wieder in das Waisenhaus gegeben, wohin die Mutter inzwischen Briefe schreiben darf, dann werden sie zu ihrer Mutter geschickt.

Als sie ihre Mutter wiedersehen, sind die Spuren des Lagerlebens deutlich sichtbar. Die Kinder erkennen sie in ihrer Häftlingskleidung kaum wieder. Auch ihr kleiner Bruder erkennt seine Geschwister nicht, muss sich erst langsam daran gewöhnen, das er zwei Schwestern hat.

Die Entlassung ist nicht das Ende der Repression

Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wird die Familie schließlich aus dem Lager entlassen. Obwohl es ihnen verboten ist, sich in größeren Städten anzusiedeln, kehren sie 1946 nach Perm zurück. Auch nach Ende des Krieges herrschen Hunger und Mangelwirtschaft, besonders für eine „Frau eines Vaterlandsverräters“. Armut und soziale Isolation prägen ihr Leben. Zwei Jahre später werden sie aus Perm in ein Dorf umgesiedelt.

Bei den Geschwistern hat die Kindheit in Waisenhaus und Arbeitslager Folgen. Der Bruder hat bis zu seiner Einschulung noch nie ein Buch gesehen, Angelina traut sich nicht, bei der Bewerbung für ein Studium den Fragebogen über ihre Eltern auszufüllen, wenn andere Kinder in der Schule über ihre Väter reden, können sie nur schweigen. Angelinas kleine Schwester plant schon ihre Hochzeit, als sich ihr zukünftiger Bräutigam von ihr lossagt, weil die Hochzeit mit der Tochter eines „Vaterlandsverräters“ das Ende seiner Karriere bedeuten würde.

Den Kindern von „Verrätern“ stehen nur zwei Studienrichtungen zur Wahl, für die keine Formulare über die Eltern ausgefüllt werden müssen: Entweder Medizin oder Pädagogik. Angelina entscheidet sich dafür, Pädagogik zu studieren, nicht ohne sich zu wundern, warum der sowjetische Staat seinen „Feinden“ ausgerechnet seine Kinder und seine Kranken anvertraut.

Entschädigung und Rehabilitation, aber keine Entschuldigung

Nach dem Beginn der Entstalinisierung wird der Vater 1957 rehabilitiert und der Familie eine kleine Entschädigung ausgezahlt, von der sich jedes Familienmitglied einen Wintermantel kaufen kann. Erst mit dem Brief über die Rehabilitierung erfährt die Familie vom Todesurteil, dass über den Vater verhängt wurde. Trotzdem gibt die Mutter bis 1992 die Hoffnung nicht auf, der Vater könnte irgendwie doch noch überlebt haben.

Als Ende der achtziger Jahre in der Sowjetunion ein politisches Tauwetter einsetzt, nimmt Angelina Wladimirowna an ersten Treffen der politisch Verfolgten teil. Zum ersten mal Treffen sich „Kriminelle“ und „Verräter“ aus dem Gebiet Perm 1987 in der pädagogischen Universität. Zwei Jahre später wird die Gesellschaft Memorial als Vereinigung der Opfer der politischen Repression gegründet. Angelina Wladimirowna wird die Koordinatorin der Organisation im Permer Sverdlovski-Bezirk. Ihre Lebensgeschichte findet auch Eingang in das Buch „The Whisperers – Private Life in Stalins Russia“. Das Bild auf dem Umschlag zeigt Angelina mit ihrer kleinen Schwester.

Angelinas Mutter erhält 1990 einen Veteranen-Ausweis und damit einige Vergünstigungen als  Entschädigung für das erlittene Unrecht. Auf Anregung von anderen Verfolgten beginnt sie, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben.

Ihr Sohn, der zum Ermittler der Miliz aufgestiegen ist, schafft es, sich die Akten über seinen Vater vom FSB, der Nachfolgeorganisation von NKWD und KGB, zu beschaffen. Darin befindet sich ein vom Vater unterzeichnetes Dokument, in dem er sich mit seinem Todesurteil einverstanden erklärt, sowie Dokumente, in denen er zahlreiche Kollegen in der Werft denunziert. Angelina hält die Unterschrift auf unter diesen Aussagen jedoch für eine Fälschung, sie kann sich nicht vorstellen, dass ihr Vater zu so etwas fähig gewesen wäre.

Für sie steht fest, wer Schuld an all dem, am Tod des Vaters und der Lagerhaft von Mutter und Kindern ist: „Stalin ist schuld!“ Eine Erkenntnis, zu der viele andere niemals gelangten. So verehrte Angelinas Großmutter Stalin glühend und starb 1955 ohne jemals die Wahrheit zu erfahren.

Fast 60 Jahre nach Stalins Großen Terror wurden beim Bau einer Straße nahe Jekaterinburg Massen von Knochen entdeckt. Hier, in einem Sumpf, befand sich eine Hirnrichtungsstätte, hier hatten die NKWD-Erschießungskommandos ihre Opfer verscharrt. Unter den Menschen, die hier 1938 ermordet wurden, ist auch Angelinas Vater. Mit ihm werden an diesem Tag noch eintausend weitere „Verräter“ hingerichtet. Heute befindet sich an dieser Stelle ein Mahnmal, das Angelina Wladimirowna jedes Frühjahr besucht. Auf eine offizielle Entschuldigung der Regierung wartet sie bis heute.

(Angelina Wladimirowna Buschuewa war letzte Woche zu Gast beim Freiwilligen-Treffen von Memorial. Mein Dank gilt Angelina Wladimirowna dafür, das sie bereit war, uns ihre Geschichte zu erzählen, und Nadia dafür, das sie die Geschichte für mich übersetzt hat.)

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Über den Dächern von Perm [Update]

Heute habe ich wieder eine Babuschkas besucht, die ich jetzt regelmäßig betreue. Dort habe ich dann eine Runde durch die Wohnung gefeudelt, einen Tee getrunken und anschließend diese Bilder gemacht, die einen kleinen Eindruck vermitteln, wie Perm so von oben aussieht.

Von der Wohnung meiner Russischlehrerin hat man auch einen guten Ausblick, nur leider auch auf das Gefängnis nebenan, deshalb gibts von dort keine Fotos. Wenn man keine Lust hat, das Gefängnis von innen zu sehen, sollte man es besser nicht fotografieren, hab ich mir sagen lassen.

Eine unordentlich in die Landschaft gewürfelte Sammlung von Plattenbauten. Die Bunten sind nach der Wende entstanden, die Grauen davor.

Perm hat auch ziemlich viele Grünflächen, nur leider sind die zur Zeit nicht sonderlich grün… Im Hintergrund steht die Uni (links über dem Zug) und ein kleines Stückchen Kama kann man auch sehen.

Zur Ergänzung noch ein paar Bilder aus dem Frühjahr, also nicht wundern über den Schnee auf einigen Bildern:

Blick aus „meinem“ Fenster…

Die Kama.

Die üblichen Verdächtigen stehen auch noch im Stadtbild rum. Man kann sich natürlich fragen ob das so sein sollte/muss, ich bin da auch geteilter Meinung.

Update 02.11.2010

Mein Vater schreibt mir dazu in einer E-Mail:

„Das Denkmal zeigt nicht Swerdlow sondern Nikolajewitsch Slawjanow, den Erfinder des Lichtbogenschweissens. Die Permer haben sein Haus zum Museum gemacht, auch wenn die Erfindung nach seinem Tod zumindest in Russland in Vergessenheit geriet.“

Da hat er natürlich recht, wenn man sich die Statue im Hellen ansieht, erkennt man auch das Schweißgerät, was dazu gehört. Swerdlow ist dieser Knilch, hier vor der Uni in Jekaterinburg, dem ehemaligen Swerdlowsk.

Ende des Updates


 

Es gibt aber auch neuere Statuen in den Straßen. Und dauernd lässt sich irgendein Depp davor fotografieren. Ich musste bei beiden warten… 😀 Der Bär wurde übrigens aufgestellt, damit die Russlandtouristen, die mit nächtlichen Bären-Begegnungen in den Straßen rechnen, nicht enttäuscht werden. Seine Nase zu streicheln soll Glück bringen, deshalb ist die auch schon ganz blank gerubbelt.

Russisches Dorf, nicht weit von Perm. Mitte April 2010. Ich freu mich schon auf den ersten richtigen Schneefall hier…

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